„In Wahrheit ist es Wiesenthals geringeres Verdienst, dass er immer wieder NS-Verbrecher ausforscht – seine wichtigere Funktion besteht seit mindestens dreißig Jahren darin, dass er österreichische und deutsche Behörden durch ständiges Briefeschreiben daran hindert, die Verfolgung von NS-Tätern sang- und klanglos einschlafen zu lassen.“

(Peter Michael Lingens, ehemaliger Mitarbeiter des Dokumentationszentrums,
in: Simon Wiesenthal: Recht nicht Rache [Frankfurt/Main, Berlin 1991] 35.)

 

1946-1954

Als der Entnazifizierungsprozess von den alliierten Besatzern immer weniger intensiv betrieben wurde, verließ Simon Wiesenthal 1946 den Counter Intelligence Corps (CIC) der U.S.-Armee und gründete in Linz die Jüdische Historische Dokumentation, um die Suche nach NS-Tätern fortzuführen.

Die Arbeit befasste sich mit dem Sammeln von Zeugenaussagen, zunächst in Form eines einfachen Fragebogens, der in den Lagern für Displaced Persons ausgeteilt und von Überlebenden ausgefüllt wurde, sowie dem Auswerten von Hinweisen auf verdächtige Personen, in Zusammenarbeit mit internationalen Dokumentationszentren, Polizei- und Gerichtsbehörden. Im Zuge dessen wurden Akten und Karteien zu NS-Verbrechern und NS-Tatkomplexen angelegt.

Das Dokumentationszentrum war in einem winzigen Büro untergebracht, litt unter ständiger Geldknappheit und war auf die Mitarbeit vieler unbezahlter freiwilliger Helfer angewiesen. Nur durch kleine Spenden und den Einsatz privater Mittel aus der journalistischen Tätigkeit Wiesenthals konnte der Bürobetrieb aufrechterhalten werden.

Als Folge des Kalten Krieges und des Desinteresses an der Verfolgung von NS-Tätern entschied sich Simon Wiesenthal 1954, das Büro in Linz zu schließen und die gesammelten Unterlagen – Dokumente und Karteikarten zu NS-Verbrechen und zur Organisation der „Endlösung“, die über zehn Meter Regalfläche einnehmen – dem Institut Yad Vashem in Jerusalem zu übergeben. Eine genaue Aufstellung dieses umfangreichen Materials bietet das Yad Vashem Bulletin No.1 vom April 1957. (The Wiesenthal Collection, Yad Vashem Bulletin) Einzig den Akt zu Adolf Eichmann, dem ehemaligen Leiter der Zentralstelle für jüdische Auswanderung, behielt er in Österreich.

 

ab 1961

Nach seiner Übersiedlung nach Wien eröffnete Simon Wiesenthal, ermutigt durch den Fall Eichmann, der 1961 in Israel vor Gericht gestellt wurde, erneut ein Büro. Dieses war vorerst in den Räumen der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) untergebracht. Nach gravierenden Konflikten inhaltlicher Natur mit der IKG gründete Wiesenthal, völlig unabhängig von jeder Interessensgemeinschaft, das Dokumentationszentrum des gemeinnützigen Vereins Bund Jüdischer Verfolgter des Naziregimes. In einem kleinen, im Winter kaum heizbaren Büro am Rudolfsplatz 7, in der Wiener Innenstadt, setzte er die Tätigkeit fort, die wieder ausschließlich durch private Spenden finanziert wurde.

„Es war wie in einem Briefkasten: Von den Zeitungen kamen Anfragen; Fremde schrieben, wenn sie der Meinung waren, dass sie einen Verdächtigen gefunden hatten; andere schickten Augenzeugenberichte von ihren Erfahrungen. Die Menschen schrieben an Wiesenthal, weil sie seinen Namen kannten oder weil sie ihm mehr vertrauten als den öffentlichen Institutionen. Wenn irgend etwas wichtig zu sein schien, leitete er es an Yad Vashem oder nach Ludwigsburg weiter [wo Deutschland eine Zentralstelle aller Landesjustizbehörden hatte]. Dann wieder schrieb er an Kontaktpersonen – deren Namen er uns niemals preisgab – um die Glaubwürdigkeit derjenigen zu überprüfen, die uns Informationen geschickt hatten.“
(Peter Michael Lingens, in: Hella Pick: Simon Wiesenthal. Eine Biographie [Hamburg 1996] 260f.)

Im Rahmen seiner Arbeit befasste sich Wiesenthal auch mit Arisierungen und Enteignungen, und engagierte sich schon zu Zeiten, als die Regierung und die Öffentlichkeit von finanzieller Wieder-gutmachung an Juden mit Hinblick auf den Opferstatus Österreichs nichts wissen wollte, für eine Entschädigung der Zwangsarbeiter. Allerdings war diesen Bemühungen damals keinerlei Erfolg beschieden.

Als im Jahr 1965 die vorgesehene Verjährung für NS-Verbrechen in Österreich und Deutschland in Kraft treten sollte, initiierte das Dokumentationszentrum im Vorfeld dieses Termins eine Kampagne und mobilisierte hunderte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der beiden Länder, die sich für die Aufhebung der Verjährungsfrist aussprachen. Ihre Stellungnahmen wurden der deutschen und kurz darauf der österreichischen Regierung vorgelegt, was wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Verjährung für NS-Verbrechen in Österreich abgeschafft und in Deutschland hinausgeschoben wurde. Eine weltweite Postkartenaktion, vom Dokumentationszentrum in Kooperation mit dem Simon Wiesenthal Center /Los Angeles organisiert, veranlasste schließlich die deutsche Bundesregierung, 1979 ebenfalls die Verjährung von NS-Verbrechen aufzuheben.

1975 übersiedelte das Dokumentationszentrum an seine jetzige Adresse, in ein Gebäude, das an der Stelle des einstigen Gestapohauptquartiers steht. Die Auseinandersetzung mit der österreichischen Innenpolitik, die auf deren Umgang mit ehemaligen Nationalsozialisten im öffentlichen Leben basierte und das Verhältnis von Regierung und Teilen der Bevölkerung zum National-sozialismus kritisch beleuchtete, überschattete und erschwerte die Arbeit vor allem in den 70er und 80er Jahren. Simon Wiesenthal als „positiver Störfaktor und Provokateur“ der politischen Routine Österreichs stand unter anderem auch im Zentrum einer wissenschaftlichen Tagung im Alten Rathaus anlässlich seines 90. Geburtstages.
(www.doew.at/thema/wiesenthal/pelinka.pdf)

 

Simon Wiesenthal Archiv

Wiesenthal arbeitete bis zu seinem 95. Lebensjahr im Dokumentationszentrum. Unterstützt wurde er von einem sehr kleinen Kreis an MitarbeiterInnen, der auch heute noch in seinem Sinne tätig ist. Seit den späten 90er Jahren hat sich der Schwer-punkt der Arbeit im Dokumentationszentrum zunehmend zur Archivierung des umfangreichen Bestandes verlagert, da sich Simon Wiesenthal bewusst war, dass seine ursprüngliche Tätigkeit, die aktive Tätersuche, welche nur mehr wenige Personen betreffen konnte, zu Ende ging. Ein wichtiges Anliegen blieb ihm bis zuletzt, sein Lebenswerk langfristig der historischen Forschung zugänglich zu machen.

Sein besonderer Wunsch war, das Archiv in Österreich zu erhalten und die Bestände hier nutzbar zu machen. Als die Israelitische Kultusgemeinde Wien im Jahre 2002 gemeinsam mit zahlreichen namhaften Organisationen die Initiative ergriff, in Wien ein internationales Forschungszentrum zu errichten, war Simon Wiesenthal maßgeblich an dessen Konzeption beteiligt. Dieses Wiener Wiesenthal Institut (VWI) soll sich ganz im Sinne des Lebenswerks seines Namensträgers der Erforschung, Dokumentation und Vermittlung von Fragen zu Antisemitismus, Rassismus und Holocaust widmen. Das Dokumentationszentrum/Simon Wiesenthal Archiv wird dort als eigenständige Organisation seinen Platz finden und mit dem Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde räumlich zusammengeführt.

Für aktuelle Entwicklungen des Wiener Wiesenthal Instituts siehe: http://www.vwi.ac.at